In welchem Alter heirateten die Emsdettener im langen 19. Jahrhundert?
Emsdetten vor dem Traualtar, Teil 2
Wer das 19. Jahrhundert aus Romanen kennt, hat vermutlich ein Bild vor Augen, in dem ein junges Mädchen, vielleicht noch ein Teenager, ein gestandenes Mannsbild um die 30 heiratet, jemanden, der es im Leben bereits zu was gebracht hat und so dem rechtlichen Ungleichgewicht der Ehepartner noch eines der Lebenserfahrung hinzufügt. Muss uns dieses Klischee heute noch interessieren? Leider ja, weil es vor allem auch über Filme über Generationen weitergetragen wurde und bis heute konservative Ideale prägt.
Das bringt uns zu der offensichtlichen Frage, ob es überhaupt je real war. Die oben skizzierte Konstellation betraf selbst im 19. Jahrhundert vor allem die Schicht des „neuen“ Bürgertums, wo die Söhne Abitur und Militärdienst machten, Jura, Medizin oder Ingenieurwesen studierten und danach in einer Berufswelt mit neuen Hierarchien zumindest die ersten Schritte zurückzulegen hatten. Höhere Bildung für die Töchter der gleichen Familien war dagegen nur rudimentär vorhanden. Eine „passende“ Heirat, ein eigener Hausstand, waren in dieser Konstellation einer der wenigen Auswege aus Stagnation und elterlicher Bevormundung. Wenn wir wieder auf Emsdetten schauen, finden wir nur wenige Familien, die in diese soziale Konstellation passen.
Abgesehen vom gesellschaftlichen gab es auch einen rechtlichen Rahmen. Das bis 1899 gültige preußische Landrecht sah für Frauen bzw. Mädchen ein Mindestheiratsalter von 14 Jahren vor, für Jungen bzw. Männer von 18 Jahren. (§ 37) Die väterliche Erlaubnis war für eine gültige Eheschließung unumgänglich, eine Ehe konnte aber auch von Amts wegen untersagt werden, „wenn den künftigen Eheleuten das nöthige Auskommen fehlen würde.“ (§ 60) In letzterer Hinsicht waren die Bestimmungen ab den 1840er Jahren lockerer, dienten aber weiter als Bremse gegenüber Teenager-Ehen. Das BGB ab 1900 setzte das weibliche Heiratsalter auf 16 Jahre hoch.
Grundsätzlich benutze ich die gleichen Quellen wie im ersten Teil, die Heiratsregister der Katholischen Kirchengemeinde Emsdetten, jeweils alle zehn Jahre von 1822 bis 1912. Die Natur der Quelle bringt es mit sich, dass nur katholisch Heiratende erfasst wurden. Diese stellten aber einen so erheblichen Teil der Gesamtbevölkerung, dass es als zulässig erscheint, daraus Schlußfolgerungen für das allgemeine Heiratsverhalten abzuleiten. Das Kirchenregister erfasste alle, die in der Gemeinde aufgeboten wurden, auch wenn sie später anderswo heirateten. Bei diesen Paaren sind die Angaben häufig dürftiger als bei Paaren, die in Emsdetten heirateten. Dazu kommt, daß offenbar nicht zu allen Zeiten das Register mit der gleichen Gründlichkeit geführt wurde.
Offensichtlich hat es Einfluss auf das Heiratsalter, ob jemand in erster Ehe heiratet oder bereits eine Ehe hinter sich hat. Im Falle einer zweiten Ehe handelt es sich mit einer Ausnahme ausschließlich um Witwen oder Witwer. Es gibt allerdings immer wieder Überlieferungslücken.

Für die Gesamtheit der Fälle wurden von 1822 bis 1912 81,0% der Männer als Junggesellen aufgeboten und 83,4% der Frauen. Die Schwankungsbreite liegt bei den Männern zwischen 76,7% im Jahre 1852 und 79,2% bei den Frauen 1822 als jeweils geringstem Wert bis 1902 und 94,7% der Männer (1832) und 94,6% der Frauen (1902) als jeweils höchstem Wert. Die Zahlen von 1912 haben diesbezüglich wenig Aussagekraft, weil in so vielen Fällen die Angabe überhaupt fehlt. Insgesamt lässt sich aber festhalten, dass an 13,7% der Aufgebote Witwer beteiligt waren, gegenüber 8,5% Witwen. Die Chancen eines Mannes auf eine zweite Ehe war also spürbar größer. Es ist anzunehmen, dass dies auch Auswirkungen auf das durchschnittliche Heiratsalter hatte.
Wenig überraschend steigt die Zahl der Verwitweten unter den Aufgebotenen auch, wenn wir nur auf diejenigen schauen, die zum Zeitpunkt des Aufgebots dreißig Jahre oder älter waren. Bei den Männern dieser Altersgruppe waren häufig etwa ein Drittel verwitwet, wobei es auch Ausnahmejahre gab (50% 1822 und nur 11,1% 1832). Diese Schwankungen gerade in den frühen Jahren hatten natürlich auch mit der geringeren Zahl der insgesamt in der noch kleineren Gemeinde heiratenden zu tun. Witwen heirateten seltener erneut, wie wir bereits festgestellt haben. Es lässt sich hier auch keine allgemeine Tendenz feststellen. Von den mindestens 30jährigen war 1822 keine einzige Witwe, 1902 auch nur 7,7%, während es 1882 die Hälfte war.
Normal: Zwischen 25 und 30
Tatsächlich zeigt ein Blick auf das durchschnittliche Heiratsalter, dass die Männer im Schnitt immer älter waren als ihre Partnerinnen. Anders als im eingangs erwähnten Klischee betrug diese Differenz aber immer nur wenige Jahre, zwischen 1,6 im Jahre 1822 bis maximal 5,3 1862. Wir können also davon sprechen, dass die Heiratenden im Regelfall der gleichen Altersgruppe angehörten. Ungeachtet einiger Wellenbewegungen kann man aber im Verlauf des Jahrhunderts einige langfristige Trends beobachten. Gerade bei den Männern begegnet uns ein ausgeprägter Anstieg des Heiratsalters in der ersten Jahrhunderthälfte, auf das ein Absinken bis 1902 folgt. Hier schienen sich die großen wirtschaftlichen Trends zu spiegeln, von der Pauperismuskrise zu den sich verbessernden Verdienstmöglichkeiten mit einsetzender Industrialisierung. Die Kurve der Bräute hat einen ähnlichen, wenn auch weniger ausgeprägten Verlauf. Sie erreicht ihren höchsten Punkt allerdings bereits früher, weicht aber 1882 noch einmal von dem sinkenden Trend ab. Sowohl bei Frauen wie bei Männern steigt das durchschnittliche Heiratsalter 1912 wieder deutlich. Da die Untersuchung wegen der Quellenlage hier abbricht, läßt sich keine Aussage treffen, ob dieses eine Ausnahme oder der Beginn eines neuen Trends war. Der zwei Jahre später ausbrechende Krieg sollte allerdings das Heiratsverhalten deutlich beeinflussen und zumindest für eine Weile längefristige Trends überdecken.

Da die Medianwerte für Frauen wie für Männer regelmäßig unter den Durchschnittswerten liegen, ist anzunehmen, dass einige altersmäßige Ausreißer für die insgesamt höheren Durchschnittswerte verantwortlich sind. Insgesamt finden sich zwischen 1822 und 1902 acht Frauen und ein Mann, die vor ihrem 20. Geburtstag heirateten. Dem gegenüber stehen 38 Männer und 18 Frauen, die in ihren 40ern heirateten und acht Männer und zwei Frauen, die bereits 50 oder älter waren, als sie vor den Traualtar traten. Die Heiratschancen relativ älterer Männer waren also besser als die älterer Frauen, eine parallele Beobachtung, wie sie auch schon zu Verwitweten zu machen war. Generell aber war das Jahrfünft vom 25. bis 30. Geburtstag das fürs Heiraten beliebteste.
Teenager am Traualtar
Wie aber sah es mit den sehr jung Heiratenden aus der Ausgangsfrage aus? Ist bei ihnen der Altersabstand zum Partner besonders groß? Entgegen den Klischees ist der erste Teenager in der Datensammlung Ludger Dreyhues, der 1822 erst achtzehn Jahre alt war und die 27jährige Maria Anna Stöcker heiratete. Hier finden wir tatsächlich einen überdurchschnittlich großen Altersunterschied, allerdings mit der Frau als der älteren Partnerin. Ein weiblicher Teenager wurde 1822 nicht in St. Pankratius aufgeboten. Weder 1832 noch 1842 trat jemand vor dem 20. Geburtstag vor den Altar, unabhängig vom Geschlecht. 1852 erschien mit Anna Erdmann erstmals eine junge Frau von 18 Jahren im Trauregister, sie heiratete den 28jährigen Bernhard Sand. Als Tochter eines Tagelöhners schaffte sie mit der Heirat eines Wannenmachers sogar einen gewissen gesellschaftlichen Aufstieg und erfüllt das Vorurteil von Zeitgenossen, wonach sich die Sprösslinge armer Familien besonders jung verheirateten, weil sie weniger durch gesellschaftliche Konventionen gebunden waren. Tatsächlich war sie zumindest in Emsdetten eher eine Ausnahme. Das zeigt sich daran, dass 1862 erneut kein Teenager das Aufgebot bestellte. In der insgesamt größeren Zahl Heiratender 1872 finden sich zwei junge Frauen: die 18jährige Maria Theresia Tieler und die 19jährige Anna Christina Beike. Beike heiratete einen 34jährigen, Tieler einen 27jährigen. Hier finden wir also wieder größere Altersabstände, vor allem im zweiten Fall. 1882 heiratete die 19jährige Josephine Wermers den 28jährigen Bernhard Heinrich Middelhoff, in all diesen Jahren wurde in Emsdetten kein Mann vor seinem 20. Geburtstag aufgeboten. Beide stammten aus dem gleichen Kötter/Heimweber-Milieu. 1892 heirateten zwei 19jährige in Emsdetten. Maria Gertrud Berlage und Maria Teupe. Sie heirateten Männer, die 31 bzw. 34 Jahre alt waren. Erneut heiratete kein so junger Mann, das sollte auch 1902 so bleiben und in diesem Jahr auch auf die Frauen zutreffen. 1912 ist wegen der großen Zahl derjenigen, von denen nur die namen festgehalten wurde, erneut weniger aussagekräftig. Es gab jedoch zwei zugewanderte junge Frauen, Agnes Allertz und Christine Lange, die mit 19 bzw 18 Jahren heirateten. Zumindest Lange folgte einem neuen Muster, als ihr Bräutigam auch erst 22 Jahre alt war, Allertz’ Bräutigam war mit 26 Jahren etwas älter, aber auch jünger als die Partner von Teenagern in den vorhergehenden Jahrzehnten gewesen waren. Da es sich mutmaßlich hier um angehörige des neuen Fabrikarbeiter-Milieus handelte, ist anzunehmen, dass sich hier tatsächlich neue, bzw. aus größeren Städten entlehnte Muster Bahn brachen. Insgesamt kann jedoch weiterhin gesagt werden, dass Heiraten vor dem 20. Geburtstag im Emsdetten des 20. Jahrhunderts eine absolute Ausnahme waren, bei Männern noch mehr als bei Frauen, und dass diejenigen, die sehr früh heirateten, dazu neigten, sich einen deutlich älteren Partner zu wählen. Zur Motivation kann ein Trauregister allerdings keine Auskunft geben.
Wenn es in Emsdetten so etwas wie eine soziale Norm gab, so war dies die Eheschließung im Alter zwischen 25 und 30 Jahren, bei Frauen etwas früher als bei Männern, aber nicht in spektakulärer Weise. Die wenigen Teenager waren achtzehn oder neunzehn Jahre alt, wären also auch nach modernem Recht dazu berechtigt. Die rechtlichen Möglichkeiten, dass Mädchen bereits deutlich früher heirateten, wurde nicht genutzt.
Die Serie zum Heiratsverhalten der Emsdettener im 19. Jahrhundert wird fortgesetzt.
Quellen:
Verzeichniß der Aufgebotenen und Getrauten in der Pfarre Emsdetten, anfangend vom ersten Januar des Jahres tausendachthundert zwey und zwanzig /:1822:/ , Jos. Völcker,
abgerufen über: matricula-online.de Emsdetten, St. Pankratius KB 009 Heiraten 1822-1847
Verzeichnis der Aufgebotenen und Getrauten in der Pfarre Emsdetten, anfangend vom 18. Januar 1848, abgerufen über matricula-online.eu/de/deutschland/muenster/emsdetten-st-pankratius, KB012 Heiraten 1848-1884
Verzeichniß der Aufgebotenen undGetrauten in der Pfarre Emsdetten, anfangend vom Jahre 1885 (bis 1914), abgerufen über: matricula-online.eu/de/deutschland/muenster/emsdetten-st-pankratius KB 017
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